Hanna Bjørgaas: Die Krähe betrachtet dich

Nastassja Martin und Hanna Bjørgaas: Über die Zivilisation in der Wildnis – und die Wildnis in der Zivilisation

Der Mensch ist seit langem die dominierende Spezies der Erde, Wildtiere, die einst auf dem Planeten vorherrschend waren, machen nur noch 4 % der Biomasse aus. Doch was besagt der Begriff “Biomasse” eigentlich aus? Wenn man die verschiedenen Tierarten lediglich im Bezug auf ihre Häufigkeit vergleicht, “begünstigt” dies kleinere Tiere mit großen Populationen im Verhältnis zu größeren Säugetieren und man bekommt keine Vorstellung davon, wie dominant die verschiedenen Arten sind. Daher vergleichen Ökologen statt der reinen Anzahl der Säugetiere deren Biomasse (in Tonnen Kohlenstoff).

So macht der Mensch ein Drittel der Biomasse der Säugetiere aus, der Viehbestand fast zwei Drittel – und Wildtiere nur noch 4 %. Ein Drittel der Schweine weltweit entspricht der Biomasse aller wildlebenden Säugetiere. Rinder wiegen fast zehnmal so viel wie alle wilden Säugetiere zusammen. Aber all diese Zahlen machen uns den Verlust der Wildnis nicht wirklich begreiflich.

Fotos: Simone Regina Adams

Kinder kennen Wölfe und Bären nur noch aus Märchen oder als Plüschtiere, sie wissen meist auch nicht, dass es Schweine, Kühe, Hunde in ihrer heutigen Erscheinungsform ohne Züchtungen gar nicht geben würde.

Der „Jugendreport Natur“, bei dem seit den 1990ern Jugendliche zwischen 12 und 15 Jahren nach ihrem Verhältnis zur Natur befragt werden, zeigt, wie wenig Kontakt junge Menschen noch zur Natur haben. Der Jugendreport 2021 konstatiert: “Mehr als die Hälfte der Jugendlichen hatte im Sommer (…) weder Fledermäuse beobachtet, einen Fuchs oder Dachs gesehen, auf einem Bauernhof mitgeholfen, einen Bach gestaut oder eine Bude im Wald gebaut. Mehr als ein Drittel hatte keine Sternschnuppen gesehen, hatte kein Lagerfeuer gemacht oder war auf einen Baum geklettert.”

Nur ein Drittel der Jugendlichen weiß, in welcher Himmelsrichtig die Sonne aufgeht. Nur ein Drittel weiß, dass getrocknete Getreidehalme dasselbe sind wie Stroh. Ein Drittel der Jugendlichen kann keinen einzigen Vogel benennen. Hagebutten sind 80 Prozent der Kinder unbekannt.

Fast die Hälfte aller Kinder in Deutschland ist noch nie auf einen Baum geklettert (EMNID-Umfrage »Kinder und ihr Kontakt zur Natur«, 2015). Diese Liste des Verlustes von Naturwissen und -erfahrung liesse sich noch lange fortsetzen …

Wie sich unser Blick auf die Natur verändert – das Shifting Baseline Syndrom

Jede Generation erlebt den Zustand der Umwelt als „natürlich“, den sie von klein auf kennengelernt hat. Das bedeutet, dass der Verlust von Arten und unberührter Natur von der nächsten Generation gar nicht mehr als Verlust erlebt wird. Dieses „Shifting Baseline Syndrom“ kann man an vielen Stellen beobachten. Wir halten eine Wiese für naturnah, in der ein paar Schmetterlinge herumfliegen, freuen uns, wenn wir ein paar Fische im Wasser sehen können – dass man früher mit jedem einzelnen Schritt durch die Wiese Falter aufscheuchte, durch Unmengen von Fischen im Wasser waten konnte, ist den meisten von uns nicht bewusst. Und nur selten fällt uns auf, welche Arten in unserer Umgebung bereits verschwunden sind. “Wer kennt heute noch den Wiedehopf? Es gibt nur noch wenige Brutpaare in Deutschland. Dabei war er vor 150 Jahren sehr verbreitet. (…) Aber wenn wir nicht wissen, was fehlt, wie können wir uns dann für den Erhalt einsetzen?” (Podcast im Deutschlandfunk)

Es gibt viele theoretische Absätze, die das Spannungsfeld von Zivilisation und Wildnis, von Mensch und (Wild-)tier beleuchten, hier möchten wir zwei Bücher empfehlen, die konkretes, unmittelbares Erleben beschreiben und dadurch beide – auf völlig unterschiedliche Art und Weise – sehr inspirierend sind.

Nastassja Martin: An das Wilde glauben

Der Mensch hat nicht nur die Tierwelt gezähmt, sondern gleichzeitig sich selbst. So schreibt z.B. Richard Wrangham in “Die Zähmung des Menschen”: Die Unterschiede zwischen dem modernen Menschen und seinen Vorfahren (…) ähneln den Unterschieden zwischen Hund und Wolf. Der Mensch ist ein selbst domestiziertes Tier, das sich mit anderen domestizierten Tieren umgibt. Das Wilde in der Natur und in uns ist uns fremd geworden.

Sehr unmittelbar und persönlich vermittelt dies die französische Anthropologin Nastassja Martin in “Croire aux fauves” (dt. Titel: “An das Wilde glauben”). Sie beschreibt ihre Forschungsaufenthalte auf der russischen Halbinsel Kamtschatka, ihr Zusammenleben mit den dort in den Wäldern lebenden Ewenen, deren animistische Auffassungen, vor allem die Begegnung mit einem Bären in den Bergen, der sie lebensgefährlich verletzt und ihre rechte Gesichtshälfte zertrümmert. Martin wird von ewenischen Freunden gefunden, von russischen Chirurgen gerettet, schließlich von französischen Ärzten nochmals operiert – und erst diese Rückkehr nach Frankreich wird für sie zum Kulturschock. Sie erlebt sich „zwischen den Welten“, zwischen Ost und West, Zivilisation und Wildnis, zwischen anthropozentrischer und animistischer Weltsicht. Irgendwann notiert sie: „Ich bin das Raubtier“. Vieles an dem, was sie beschreibt, ist uns fremd geworden. Und gerade deshalb lohnenswert, weil es Fragen aufwirft, auch zum eigenen Selbstverständnis – wie wild, wie gezähmt oder ungezähmt erleben wir uns?

Hanna Bjørgaas: Das geheime Leben in der Stadt. Nachrichten aus der urbanen Wildnis

Einen ganz anderen Ansatz verfolgt die Norwegerin Hanna Bjørgaas. Auch sie hat ihre Expeditionen zunächst in die Ferne unternommen. In der Nähe der antarktischen Halbinsel, vor Eisgletschern und Zügelpinguinen stehend, fühlt sich diese Reise plötzlich falsch an für sie, auch der “Status, der daraus entsteht, ein Bild von den jungfräulichen Gletschern auf Facebook oder Instagram zu posten”, möglichst, ohne dass die anderen touristischen Mitreisenden mit aufs Foto geraten.

Und sie erkennt plötzlich, dass sie “mehr über die Flechten der Antarktis wusste als über die im eigenen Hinterhof.” Zurück in Oslo beginnt sie, in ihrem unmittelbaren städtischen Umfeld zu forschen – und entdeckt als erstes die faszinierende Welt der Krähen. Deren Gebrauch von Werkzeug, ihre Kommunikation, ihre Fähigkeit, Menschen wiederzuerkennen sowie die Fähigkeit, kollektives Wissen aufzubauen und sogar an die nächste Generation weiterzugeben, all das lässt Bjørgaas vermuten: “Wo wir lediglich eine Masse von grau-schwarzen Vögeln sehen, sind diese in der Lage, uns individuell zu unterscheiden. Vielleicht weiß die Krähe ja mehr über uns als wir über sie.”

Im Laufe eines Jahres lernt Bjørgaas nicht nur neu zu sehen, sondern auch zu hören. Als nächstes widmet sie sich den Amseln – und ihrem Gesang. Wenn man aus einer Hecke heraus einen SMS-Ton hört, so lernt sie, könnte es sein, dass hier kein Mensch auf der Lauer liegt, sondern eine Amsel von einem Smartphone inspiriert wurde. Warum singen Vögel überhaupt? Und warum imitieren sie, wie die Amseln, Autosirenen, Katzenjunge, oder Alarmsignale – so wie ein norwegischer Star, der das Pfeifen bei der Abfahrt des Zuges derart gut nachahmen konnte, dass die Züge seinetwegen zu früh abfuhren? Und warum singt die Amsel in der Stadt bis zu fünf Stunden früher als im Wald?

So lernt die Autorin immer weiter, und es ist bemerkenswert, dass sie sich auch den ungeliebteren Tieren widmet, wie den Ameisen in der Küche und den Abfall fressenden Möwen in der Stadt, die genau wissen, wann die Deponien geschlossen sind, und wann der Kebap-Laden schließt und der Besitzer keine Energie mehr hat, sie wegzujagen. Sie sucht in der kompaktierten Erde, wie sie in der Stadt meist vorkommt, nach Regenwürmern, Pilzen und Rädertierchen. Sie befasst sich mit den Fledermäusen, deren Bestände stark zurückgegangen sind, und denen unter anderem das Flutlicht der Städte zu schaffen macht.

Die Reise durch die urbane Wildnis führt gegen Ende zu den Beobachtungen, mit denen sie begonnen hat, denen der Flechten. Wir erfahren, wie zuverlässig sich der Grad der Luftverschmutzung in der Stadt anhand der vorhandenen Flechten ablesen lässt, man braucht lediglich “eine Handlupe, ein Flechtenbestimmungsbuch und etwas Geduld.” In Großbritannien halfen in den 1970er Jahren fünfzehntausend Kinder, Flechten in ihren Wohngebieten zu identifizieren, mit den Daten wurde eine Karte der Luftverschmutzung erstellt, die ziemlich genau mit späteren professionellen, technischen Messungen übereinstimmte.

Das letzte Tier, dem Bjørgaas sich widmet – und dadurch den Blick der Leser nachhaltig verändert – ist der Hausspatz. Der Spatz ist der Wildvogel, der weltweit wohl die größte Ausbreitung erfahren hat, dabei fast nur in Menschen- und Stadtnähe lebt, und der, ähnlich wie Menschen, Hunde und andere (Haus-) tiere, größere Mengen an stärkehaltiger Nahrung verdauen kann. “Wir Menschen und diese Vögel”, so Bjørgaas, “schreiben seit über zehntausend Jahren eine gemeinsame Geschichte. Ungefährt genauso lang ist unsere Geschichte mit den Kühen. Doch (…) die Spatzen behielten die Herrschaft über sich selbst.”

Und sie fragt sich: “Warum hatte ich früher Krähen und Stockenten nicht mit derselben Begeisterung betrachten können wie die Pinguine? Vielleicht war mir der Gedanke von der spektakulären, von Menschen unberührten Natur in die Quere gekommen.”

Am Ende beschreibt auch sie die Shifting Baseline: “Weil viele von uns Vogelarten nicht mehr voneinander unterscheiden können, merken wir nicht, wie Zaunkönige, Goldammern und Heckenbraunellen von den Bäumen im Park verschwinden und dass nur noch Kohlmeisen übrig bleiben … und selbst diese immer weniger werden.”

Bjørgaas läd dazu ein, die Natur vor der eigenen Haustüre neu zu sehen und zu erleben. “Vielleicht”, so schließt sie, “ist es an der Zeit, sich mit ihr bekannt zu machen.”

Transparenzhinweis: Das Buch von Hanna Bjørgaas wurde vom Verlag STROUX edition als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank dafür!