Wie die Pandemie unsere Fähigkeit, Unsicherheit, Ambivalenz und Ohnmacht auszuhalten, herausfordert – ein Essay von Dr. Michael J. Kindl
Januar 2022. Mit dem Fahrrad fahre ich an einer “Querdenker”-Demo vorbei. Die Stimmung ist trotz der eisigen Kälte des Wintertages aufgeheizt, die Bereitschaft der Demonstranten, Polizisten oder Passanten anzupöbeln, ist spürbar hoch. Eine einzelne Frau, die dort mit einem “Antifa”-Schild steht, wird verbal attackiert. Am gleichen Tag lese ich in der regionalen Zeitung von einer Impfaktion für Kinder und Jugendliche, wobei der Ort der Impfung nicht genannt, sondern den Eltern erst nach der Anmeldung individuell mitgeteilt wird – zu groß ist die Sorge vor Übergriffen auf die impfenden Ärzte. Das erschüttert mich.
Als eine “Naturkatastrophe in Zeitlupe” hat der Virologe Christian Drosten die Pandemie bezeichnet. Wie vielschichtig die Auswirkungen für uns in gesellschaftlicher Hinsicht sind, darüber hat der Münchner Psychoanalytiker Michael Kindl einen Essay geschrieben, der die gesellschaftliche Stimmung, die psychische Verunsicherung und die Herausforderungen angesichts immer neuer Covid-Varianten eindrücklich beschreibt. Wir zitieren ihn deshalb hier.
Dr. Michael J. Kindl: “Die Corona- Krise zeigt, wie fragil, instabil, inkonsistent und vulnerabel unsere scheinbaren Grundüberzeugungen, unsere vermeintlichen Gewissheiten und politisch-gesellschaftlichen Einstellungen sein können, wenn sich die Lebensbedingungen verändern.
Sie macht deutlich, wie situations- und erfolgsabhängig, aber auch wie revisionsbedürftig die ethisch relevanten Wert- und Koordinatensysteme unserer Kultur und der gesamten Zivilisation wohl sind.
Unsere – zum Teil in sich widersprüchlichen und ambivalenten – Erwartungen und Forderungen an die politischen Verantwortungsträger unterliegen einem permanenten inneren Abstimmungs- und Bewertungsprozess, dessen Kriterien fast täglich nachjustiert werden und zum Teil auch angesichts neuer Erkenntnisse immer wieder korrigiert werden müssen. Es ist ein gigantisches Lernprojekt.
Unser eigenes Beurteilungsvermögen wird auf eine ungewöhnlich harte Probe gestellt: Eindeutigkeiten lösen sich auf. Der Begriff der „Ambiguität“ besagt, dass eine Position, aber auch die Gegenposition ihre jeweilige Berechtigung haben kann: So zum Beispiel in der Frage, ob die Freiheit einer Minderheit (z.B. der älteren, risikobehafteten Bevölkerung ) beschränkt werden darf, um jene einer Mehrheit (der jüngeren, nicht vorerkrankten) zu gewährleisten oder zu ermöglichen – dies kann kann mit guten ethischen Begründungen sowohl bejaht als auch verneint werden. Beide Sichtweisen können also berechtigt sein, obwohl sie diametral entgegengesetzt sind.
Hier zeigt sich, inwieweit die Politik die Kunst beherrscht, Narrative, Erklärungen, Erzählungen und Begründungen zu konstruieren bzw. zu formulieren, die von den Bürgern in einem konstruktiven Kommunikationsprozess als einleuchtend und berechtigt erfahren und angenommen werden können.
Wie grundsätzlich das Vertrauen der BürgerInnen in Politik, Wissenschaft, Medien und Technik – sowie in deren Repräsentanten – einem beschleunigten und fundamentalen Wandel unterworfen sind, ist abzulesen an den in kurzen Zeitabständen medial veröffentlichten Umfragewerten: Da definiert sich beispielsweise die Antwort auf die Frage, welche Berufsgruppen „Systemrelevanz“ aufweisen, unter dem Eindruck dieser viralen Bedrohung völlig neu: Ärzte, speziell führende Virologen, Biomathematiker, Epidemiologen und Sozialmediziner sowie Pflegende wurden in den ersten kritischen Phasen der Pandemie-Ausbreitung zu den bestimmenden, hochgeachteten gesellschaftlichen Akteuren, denen Vertrauen, Anerkennung und respektvolle Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde und auch weiterhin noch wird.
Auch PolizeibeamtInnen, Landwirten, Lebensmittelherstellern, VerkäuferInnen, Fern- oder Busfahrern und Müllentsorgern, die für die Aufrechterhaltung des Alltagslebens unentbehrlich sind, wurden spontane öffentlich Ehrungen als „Helden und Heroen der Krise“ zuteil. Dem kostenlosen Applaus, der diesen Berufsgruppen von Teilen der Öffentlichkeit gespendet wurde, folgten sogar – bislang nicht eingelöste – politische Versprechen hinsichtlich einer Höhergruppierung der betreffenden Gehälter.
Die Frage, inwieweit die Politik ihre demokratischen Machbefugnisse an medizinische Koryphäen und Kompetenzträger delegiert habe, war Gegenstand kontrovers geführter öffentlicher Dispute und Diskurse.
Um politische Heilsbringer mit scheinbarer Omnipotenz und Erlöserqualitäten ist es still geworden
Politiker, die bisher auf der Beliebtheitsskala ganz oben rangierten, da sie mit einer Aura der Erfolgreichen, mit narzisstischem Habitus, beeindruckender medial-telegener Ausstrahlung, bestechender Rhetorik oder beträchtlichem Selbstdarstellungspotential ausgestattet waren, büßen zum Teil sichtlich an öffentlicher Zustimmung ein, während andere an Vertrauen, Status und Wertschätzung gewinnen, die bisher eher zwar durchaus kompetent, aber doch eher im Stillen wirkend ihrer politischen Arbeit nachgingen. Um politische Heilsbringer mit scheinbar omnipotenten Erlöserqualitäten ist es z. Zt. sichtlich still geworden.
Das Virus, unsichtbar, mikroskopisch klein und zugleich in seiner Wirkung unvorstellbar mächtig, grenzenlos agierend und mit einer gigantischen Zerstörungskraft ausgestattet, tangiert alle Ebenen des menschlichen Lebens. Es betrifft das Individuum, seine umgebende Familie und Gruppe, die Gesellschaft, ja unsere ganze Zivilisation – und nicht nur unsere von individualistischen Werten und Rechten geprägt westliche.
Mikroskopisch klein und unvorstellbar mächtig
Dieses Virus ist widerspenstig, wandlungsfähig, es bleibt unbeeindruckt von jeglicher Art einer staatlichen Verordnung und es entzieht sich weitgehend bzw. auf längere Zeit der wissenschaftlichen und technischen Zugriffsmöglichkeit. Es zwingt uns, in Geduld auszuharren und in einem für viele schmerzlichen Entwöhnungsprozess unsere bisherigen Abhängigkeiten und Süchte der unterschiedlichsten Art zumindest tendenziell aufzugeben. Dieses kleinste Virus dominiert derzeit scheinbar über die gesamte Menschheit.
Zusammenhalt und Spaltung
Insofern kommt dem Virus eine einende, verbindende Funktion zu: Es macht die Menschen weltweit in einer gewissen Weise gleich, in dem es alle in unterschiedlicher Weise zu potentiellen Opfern und Betroffenen werden lassen kann. Es hat keinen Respekt vor Prominenz, Macht, Wissen oder Intellektualität. Es lässt bekanntlich nicht mit sich verhandeln: wir alle, unabhängig von Status, Herkunft und Einfluss sitzen gleichsam seit langen Zeiten erstmals wieder in einem, dem gleichen Boot. Es nivelliert so gesehen auch die alters-, geschlechts- status- und herkommensspezifischen Unterschiede, nach denen die Wertzuschreibungen an Menschen in üblicher Weise vorgenommen werden.
Das Virus schützt oder belohnt aber ebenso nicht unbedingt und automatisch den verantwortungsvollen, achtsamen Mitmenschen, der auch die verordneten Verhaltensregeln gewissenhaft einhält. Es bestraft aber auch nicht in einer berechenbaren Weise den risikofreudigen, rücksichtslosen, sich narzisstisch unverwundbar fühlenden oder gleichgültigen Zeitgenossen.
Zugleich spaltet dieses Virus jedoch als schicksalhafter Beschleuniger sozialer Ungleichheit in einer brutalen, heimtückischen und zutiefst ungerechten und willkürlichen Weise unsere Gesellschaften auf lange Zeit, in dem es Menschen sortiert und klassifiziert in „nicht Betroffene“, „Verstorbene“, „Traumatisierte“, „symptomfrei Betroffene“, „symptomatisch schwer und leicht Betroffene“, „ Betroffene mit und ohne Spätfolgen“, „indirekt oder sekundär Betroffene“, „sozial und ökonomisch mehr oder weniger Vernichtete“ usw.
Gewinner und Verlierer
Daneben wird es auch eine nicht unerheblich große Gruppe von Wirtschaftsbranchen geben, die aus der Pandemiekrise mehr oder weniger gigantische ökonomische und strategische Vorteile generiert haben und so in unterschiedlicher Weise „gestärkt“ als „Gewinner“ aus dieser Zeit hervorgehen. Wie sich unter diesen tiefgreifenden, desaströsen und für viele traumatisierenden sozialen und politischen Umwälzungen die Bedingungen für das Fortbestehen einer solidarischen Gesellschaft aufrecht erhalten lassen, wird zu einer entscheidenden Zukunftsfrage und -aufgabe aller am Wiederaufbau beteiligten Kräfte werden müssen.
Die Spaltungen generieren notgedrungen massiv- pathogene gesellschaftliche Dynamiken: Da lebt der Beamte oder der Pensionär völlig unbelastet und unbeschadet unter dem Schutz der staatlichen Fürsorgepflicht sein bisheriges Leben weiter. Da fallen Angestellte unter das Hilfsdach von Soforthilfen und Sicherheitsschirmen. Beruhigend vor allem dann, wenn die Unternehmen die Einkommensdifferenzen weitgehend ausgleichen. Da bewahrt das Kurzarbeitergeld viele vor schlimmsten Engpässen, während gleichzeitig große Teile der Bevölkerung Einschränkungen gesundheitlicher, wirtschaftlicher oder psychosozialer Art in einem höchst empfindlichen Ausmaß erleiden und hinnehmen müssen.
Viele, u.a. Freiberufliche, Gewerbetreibende, Kleinunternehmer, Kulturschaffende und Künstler, sehen sich unverschuldet mit ihren Familien am Rande eines psychischen, sozialen oder wirtschaftlichen Abgrundes, wodurch alle Gründeraktivitäten und Aufbauarbeiten, die sich oft über Generationen hingezogen haben – wie ungeschehen gemacht -, völlig entwertet werden. Es werden hunderttausendfach soziale Existenzen, mühsam aufgebaute Karrieren, persönliche Lebensentwürfe und auch in lebenslangen Entwicklungs- und Lernprozessen sich konstituierende psychische Identitäten innerhalb kürzester Zeit in einer an Brutalität und Rücksichtslosigkeit kaum nachvollziehbaren Weise den härtesten Belastungsproben mit hohen Risiken des Scheiterns ausgesetzt. (…)
Wie werden jene Erfahrungen unser kulturelles Gedächtnis prägen?
Wir wissen ebenso noch nicht, welche Wirkungen all jene Erfahrungen (z. B. von Ohnmacht, sozialer Deprivation und Verunsicherung, Hilflosigkeit, Zukunfts- und Existenzangst, Identitätsverlust, Kontakteinschränkung, direkter oder indirekter viraler Betroffenheit), die wir Erwachsene, aber auch Kinder bisher in der Pandemiezeit machen mussten und noch machen werden, in unserem Seelenleben entfalten. Auch können wir nur ansatzweise Theorien darüber entwickeln, wie sich diese Aspekte auf das individuelle und kollektive Unbewusste von uns Menschen auswirken werden oder wie sie das kulturelle Gedächtnis unserer Gesellschaft mitprägen.
Was wir jedoch mit Sicherheit wissen, ist, dass die Weltgesellschaft vor gigantischen Herausforderungen steht, die wir nur bewältigen können, wenn die Länder und ihre Führungen alle politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturell verfügbaren Ressourcen über die nationalen Grenzen hinweg in friedlicher Koexistenz zu Lösung einsetzen. Es ist auf lange Sicht nicht die Zeit etwa für die Erhöhung von Militär-, Rüstungs- und Verteidigungsausgaben. Die Zeit mahnt uns, militärische Operationen ebenso wie Wirtschaftskriege und Ausbeutungsstrukturen etwa zwischen „erster“ und „dritter Welt“ umgehend zu beenden bzw. einzustellen. <strong>In Zeiten einer Pandemie Kriege zu führen ist paradox und in gewisser Weise auch von totaler Verrücktheit.
(…) Ein Zurück in unser bisheriges, altes Leben ist auf lange Sicht nicht zu erwarten. Wir müssen unsere bisherigen Annahmen über Sicherheit in der Welt, über Legitimation von Macht, deren Ausübung und Kontrolle, über die Möglichkeiten und Grenzen von Wissenschaft und Technik, ihre Nutzbarmachung für uns Menschen in der Krise korrigieren.
Und auch unsere grundsätzlichen individuellen und gesellschaftlich-kulturellen Wert- und Orientierungssysteme, die wichtige Aspekte unserer Identität ausmachen, müssen wir angesichts dieser Realität in tiefgehender Weise überdenken und reflektieren.
Die Fähigkeit, Unsicherheit, Unkontrollierbarkeit, Mehrdeutigkeit, Ambivalenz und Ohnmacht aushalten und ertragen zu können, ist psychisch wie pädagogisch wertvoll und erstrebenswert. So müssen wir in Zukunft mehr als bisher mit der Erfahrung, dass es keine absoluten und umfassenden Wahrheiten gibt, die uns vor Ambivalenzen und Wertkonflikten bewahren würden, zurechtkommen.
Dass diese auch von der Wissenschaft nicht ad hoc geliefert werden können, mag uns nachhaltig enttäuschen und irritiert in einer Zeit der drängenden Wahrheitssuche zurücklassen. Wir müssen uns der Begrenztheit und Verletzbarkeit sowohl der menschlichen Spezies als auch des eigenen individuellen Lebens noch einmal in einer besonderen Weise bewusst werden.
Es kann uns gelingen, wenn wir einen vertieften Zugang zu unserem Unbewussten, unseren eigentlichen, wesentlichen Bedürfnissen und zu unserer inneren Gefühlswelt anstreben. Wir müssen mit Sicherheit mehr Empathie und Verantwortung entwickeln für die „Anderen“, die Unterprivilegierten, die Ausgebeuteten der Welt und die ohnmächtig einem ungerechten Schicksal Ausgelieferten. Wir dürfen zugleich gegenüber den heimatlos Gewordenen, die in den Flüchtlingsströmen nach einem sicheren Ort auf der Welt und nach einer Lebensperspektive suchen, nicht gleichgültig werden.
Selbstverständlich können wir aus sozialpolitischer Sicht auch die „Schwachen, Armen und überforderten Mitmenschen“ im eigenen, bisher so reichen und privilegierten Lande nicht aus dem Auge verlieren. Und schließlich geht es auch um die Definition unseres Verhältnisses zur nicht-menschlichen Welt, um die menschengemachten Klimaprobleme. Dieser unserer globalisierten Generation steht eine gigantische Mammutaufgabe und möglicherweise eine langfristige, in ihrer Komplexität noch nicht vorstellbare Sisyphusarbeit bevor.
Können wir uns dieses Mal selbst sagen: „Wir schaffen das“?