Wie das Jahr 2020 die Weltwirtschaft erschütterte – Auszüge aus “Welt im Lockdown” von Adam Tooze
Im Guardian (Sept. 2021) erschien ein Auszug aus Shutdown: How Covid Shook the World’s Economy von Adam Tooze, einem der anerkanntesten Wirtschaftshistoriker unserer Zeit. Tooze beschreibt und erfasst darin die Entwicklung seit und durch Ausbruch der Pandemie in politischer, gesellschaftlicher und insbesondere wirtschaftlicher Hinsicht, sehr anschaulich und nachvollziehbar – es liest sich wie eine konkrete Veranschaulichung dessen, was Daniel Schmachtenberger aus evolutionsphilosophischer Sicht erklärt.
Wir haben Auszüge aus dem Artikel übersetzt, noch bevor es das Buch auf Deutsch gab. Daher entspricht der Text hier naturgemäß nicht ganz der deutschen Ausgabe (übersetzt von Andreas Wirthensohn), ist aber vielleicht dennoch ein möglicher Einstieg ins Buch und in das Thema. Der Link zum Buch findet sich am Ende des Textes.
Adam Tooze: Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen
„Wenn ein Begriff die Erfahrung von 2020 zusammenfassen könnte, wäre es: Ungläubiges Staunen. Zwischen der öffentlichen Bestätigung des Coronavirus-Ausbruchs durch Xi Jinping am 20. Januar 2020 und der Amtseinführung von Joe Biden als 46. Präsident der Vereinigten Staaten, genau ein Jahr später, erschütterte eine Krankheit die Welt, die innerhalb von 12 Monaten mehr als 2,2 Millionen Menschen tötete und an der zig Millionen schwer erkrankten.
Heute liegt die offizielle Zahl der Todesopfer bei 4,51 Millionen. Die Übersterblichkeit ist wahrscheinlich mehr als doppelt so hoch. Das Virus erschütterte den Alltag praktisch aller Menschen auf der Welt, stoppte einen Großteil des öffentlichen Lebens, schloss Schulen, trennte Familien, unterbrach Reisen und stellte die Weltwirtschaft auf den Kopf.
Um die Folgen einzudämmen, nahm die staatliche Unterstützung für Haushalte, Unternehmen und Märkte Dimensionen an, die es außerhalb von Kriegszeiten nie gegeben hatte. Es war nicht nur die mit Abstand stärkste wirtschaftliche Rezession seit dem zweiten Weltkrieg, sie war auch qualitativ einzigartig. Nie zuvor hatte es eine derartige – wenn auch planlose und uneinheitliche – kollektive Entscheidung gegeben, große Teile der Weltwirtschaft stillzulegen. Es war, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) es formulierte, „eine Krise wie keine andere“.
Noch bevor wir wussten, was uns treffen würde, gab es allen Grund zu der Annahme, dass 2020 turbulent werden könnte. Der Konflikt zwischen China und den USA erhitze sich. Ein „neuer kalter Krieg“ lag in der Luft. Das globale Wachstum hatte sich 2019 stark verlangsamt. Der IWF machte sich Sorgen über die destabilisierende Wirkung, die geopolitische Spannungen auf eine bereits hoch verschuldete Weltwirtschaft haben könnten. Ökonomen hatten neue statistische Indikatoren entwickelt, um die Unsicherheit nachzuverfolgen, die die Investitionen hemmte. Die Daten deuteten stark darauf hin, dass die Ursache der Probleme im Weißen Haus lag. Dem 45. Präsidenten der USA, Donald Trump, war es gelungen, zu einer ungesunden globalen Obsession zu werden. Er stand im November zur Wiederwahl an und legte es darauf an, den Wahlprozess zu diskreditieren, selbst wenn er gewinnen würde. Nicht umsonst lautete das Motto der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 – das Davos für nationale Sicherheitsfragen – „Westlessness“.
(Anm.von uns: Bei dieser Konferenz sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier darüber, dass der Einfluss des Westens in der Welt aus zwei Gründen bröckelt: Mit Trump entferne sich Amerika von der Friedenssicherung in der Welt, und Europa sei vor allem mit eigenen Problemen beschäftigt – auch wenn die Probleme anderer Ländern morgen zu den eigenen werden könnten)
Abgesehen von den Sorgen um Washington lief die Uhr für die Brexit-Verhandlungen. Noch alarmierender für Europa zu Beginn des Jahres 2020 war die Aussicht auf eine neue Flüchtlingskrise. Im Hintergrund lauerten sowohl die Bedrohung einer letzten grausigen Eskalation des syrischen Bürgerkriegs als auch das chronische Problem der Unterentwicklung. Der einzige Weg, hier Abhilfe zu schaffen, bestand darin, Investitionen und Wachstum im globalen Süden anzukurbeln. Der Kapitalfluss war jedoch instabil und ungleich. Ende 2019 näherte sich die Hälfte der einkommensschwächsten Kreditnehmer im Afrika der Subsahara bereits dem Punkt, an dem sie ihre Schulden nicht mehr bedienen konnten.
Das allgegenwärtige Risiko- und Angstgefühl, das in der Weltwirtschaft herrschte, war eine bemerkenswerte Umkehr. Noch kurz zuvor schienen der scheinbare Triumph des Westens im Kalten Krieg, der Aufstieg der Finanzmärkte, die Wunder der Informationstechnologie und die Ausweitung des Wirtschaftswachstums die kapitalistische Wirtschaft als alles erobernde Triebfeder der modernen Geschichte zu festigen.
In den 1990er Jahren schien die Antwort auf die meisten politischen Fragen einfach: „Es ist die Wirtschaft, Dummkopf.“ Als das Wirtschaftswachstum das Leben von Milliarden Menschen veränderte, gab es, wie Margaret Thatcher gerne sagte, „keine Alternative“. Das heißt, es gab keine Alternative zu einer Ordnung auf der Grundlage von Privatisierung, geringer Regulierung und der Freiheit des Kapital- und Warenverkehrs. Noch im Jahr 2005 konnte Großbritanniens zentristischer Premierminister Tony Blair erklären, dass es ebenso sinnvoll sei, über die Globalisierung zu streiten, wie darüber zu streiten, ob der Herbst dem Sommer folgen sollte.
2020 jedoch standen Globalisierung und Jahreszeiten in Frage.
Die Wirtschaft hatte sich von der Antwort zur Frage gewandelt. Eine Reihe tiefer Krisen – sie trafen Asien Ende der 90er Jahre, das atlantische Finanzsystem im Jahr 2008, die Eurozone im Jahr 2010, und die globalen Rohstoffproduzenten im Jahr 2014 – hatten das Vertrauen in die Marktwirtschaft erschüttert. All diese Krisen waren überwunden, aber durch Staatsausgaben und Zentralbankinterventionen, die völlig jenseits der fest verankerten Gebote über „zurückhaltende Regierungen“ und „unabhängige“ Zentralbanken lagen.
Die Krisen waren durch Spekulationen ausgelöst worden, und das Ausmaß der Interventionen, die zu ihrer Stabilisierung notwendig waren, war historisch. Doch der Reichtum der Weltelite wuchs weiter. Während Gewinne privat waren, wurden Verluste sozialisiert. Wer könnte überrascht sein, fragten sich jetzt viele, wenn die zunehmende Ungleichheit zu populistischen Disruptionen führte? Inzwischen war mit Chinas spektakulärem Aufstieg nicht mehr klar, dass die großen Wachstumsgötter auf der Seite des Westens standen.
Und dann, im Januar 2020, kam die Nachricht aus Peking. China stand vor einer ausgewachsenen Epidemie eines neuartigen Coronavirus. Dies war der natürliche „Rückschlag“, vor dem uns Umweltschützer seit langem gewarnt hatten, aber während die Klimakrise uns dazu veranlasste, unseren Geist auf eine planetare Skala auszudehnen und einen Zeitplan in Bezug auf Jahrzehnte festzulegen, war das Virus mikroskopisch klein und allgegenwärtig, und bewegte sich im Rhythmus von Tagen und Wochen. Es betraf nicht Gletscher und Meeresgezeiten, sondern unseren Körper. Es wurde von unserem Atem getragen. Es würde nicht nur einzelne Volkswirtschaften, sondern die Weltwirtschaft in Frage stellen. (…)
Als es dann zutage trat, hatte Sars-CoV-2 das Aussehen einer vorhergesagten Katastrophe. Es war genau jene Art hochansteckender, grippeähnlicher Infektion, die Virologen vorhergesagt hatten. Es kam von einem der Orte, von denen sie es erwartet hatten – der Region mit dichter Interaktion zwischen Wildtieren, Landwirtschaft und urbaner Bevölkerung, die sich über Ostasien erstreckte.
Es verbreitete sich, vorhersagbar, über die Kanäle des globalen Transports und der Kommunikation. Es hatte, ehrlich gesagt, einigen Vorlauf.
Es gab schon weitaus mehr Pandemien. Was 2020 dramatisch neu am Coronavirus war, war das Ausmaß der Reaktion. Nicht nur reiche Länder gaben enorme Summen aus, um Bürger und Unternehmen zu unterstützen – auch arme Länder und Länder mit mittlerem Einkommen waren bereit, einen hohen Preis zu zahlen. Anfang April befand sich die überwiegende Mehrheit der Welt außerhalb Chinas, wo es bereits eingedämmt war, in beispiellosen Bemühungen, das Virus zu stoppen. „Dies ist der echte Erste Weltkrieg“, sagte Lenin Moreno, Präsident von Ecuador, einem der am stärksten betroffenen Länder. „(…) das betrifft alle. Es gibt keine örtlich Begrenzung. Es ist kein Krieg, dem man entkommen kann.“
Lockdown ist der allgemein gebräuchliche Ausdruck, um unsere kollektive Reaktion zu beschreiben. Das Wort ist umstritten. Lockdown deutet auf Zwang hin. Vor 2020 meinte der Begriff Kollektivstrafen in Gefängnissen. Es gab Momente und Orte, an denen dies eine treffende Beschreibung für die Reaktion auf Covid war. In Delhi, Durban und Paris patrouillierten bewaffnete Polizisten durch die Straßen, nahmen Personalien auf und bestraften diejenigen, die gegen Ausgangssperren verstießen. In der Dominikanischen Republik wurden erstaunliche 85.000 Menschen, fast 1% der Bevölkerung, wegen Verstoßes gegen den Lockdown festgenommen.
Aber auch da wo keine Gewalt im Spiel war, wurden von der Regierung angeordnete Schließungen aller Restaurants und Bars von Besitzer und Kunden als repressiv erlebt. Lockdown scheint eine einseitige Beschreibung der wirtschaftlichen Reaktion auf das Coronavirus zu sein. Die Mobilität ging überstürzt zurück, lange bevor staatliche Anordnungen erteilt wurden. Die Flucht in die Sicherheit an den Finanzmärkten begann Ende Februar. Kein Wärter schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel; vielmehr gingen die Anleger in Deckung. Die Verbraucher blieben zu Hause. Unternehmen schlossen oder verlagerten sich auf Heimarbeit. Ab Mitte März wurde das Herunterfahren zur Regel. Diejenigen, die sich außerhalb des nationalen territorialen Raums befanden, wie zum Beispiel Hunderttausende von Seeleuten, fanden sich in ein schwimmendes Zwischenreich verbannt.
Die weit gefasste Übernahme des Begriffs „Lockdown“ ist ein Indiz dafür, wie umstritten die Politik des Virus ausfallen würde. Gesellschaften, Gemeinden und Familien stritten erbittert um Masken, soziale Distanzierung und Quarantäne. Die ganze Erfahrung war ein Beispiel im größten Maßstab für das, was der deutsche Soziologe Ulrich Beck in den 80er Jahren als „Risikogesellschaft“ bezeichnete. Als Ergebnis der Entwicklung der modernen Gesellschaft sahen wir uns kollektiv von einer unsichtbaren Bedrohung heimgesucht, die nur für die Wissenschaft sichtbar war, ein Risiko, das abstrakt und immateriell blieb, bis man krank wurde, und die Unglücklichen ertranken langsam in der Flüssigkeit, die sich in ihren Lungen ansammelte.
Eine Möglichkeit, auf eine solche Risikosituation zu reagieren, besteht darin, sich in die Verleugnung zurückzuziehen. Das kann funktionieren. Es wäre naiv, von etwas anderem auszugehen. Viele weit verbreitete Krankheiten und soziale Missstände, darunter viele, die in großem Umfang Menschenleben kosten, werden ignoriert, als „Natur“, als „Fakten des Lebens“ behandelt. Im Hinblick auf die größten Umweltrisiken, insbesondere die Klimakrise, könnte man sagen, dass unsere normale Vorgehensweise Verleugnung und bewusste Ignoranz im großen Stil ist.
Die große Mehrheit der Menschen auf der ganzen Welt versuchte, sich der Pandemie zu stellen. Aber das Problem ist, wie Beck sagte: es ist leichter gesagt als getan, die wirklich großen, allgegenwärtigen Risiken in den Griff zu bekommen, die die moderne Gesellschaft erzeugt. Es erfordert eine Übereinkunft über diese Risiken. Es erfordert auch eine kritische Auseinandersetzung mit unserem eigenen Verhalten und der uns umgebenden sozialen Ordnung.
Es erfordert die Bereitschaft, politische Entscheidungen über die Ressourcenverteilung und Prioritäten zu treffen – auf allen Ebenen. Solche Entscheidungen kollidieren mit dem vorherrschenden Wunsch der letzten 40 Jahre, sich zu entpolitisieren, solche Entscheidungen den Märkten oder dem Gesetz zu überlassen.
Dies ist die Grundidee des Neoliberalismus oder der Marktrevolution – Verteilungsfragen zu entpolitisieren, einschließlich der sehr ungleichen Folgen gesellschaftlicher Risiken aufgrund des Strukturwandels in der globalen Arbeitsteilung, aufgrund von Umweltschäden oder Krankheiten.
Das Coronavirus enthüllte eklatant unseren institutionellen Mangel an Vorbereitung, den Beck unsere „organisierte Verantwortungslosigkeit“ nannte (s. auch unser Artikel: Das Spiel mit der heissen Kartoffel). Sie offenbarte die Schwäche grundlegender Apparate der Staatsverwaltung, wie etwa aktueller Datenbanken der Regierung. Um der Krise zu begegnen, bräuchten wir eine Gesellschaft, die der Fürsorge einen viel höheren Stellenwert einräumt. Aus ungewohnten Richtungen kam der laute Ruf nach einem „neuen Gesellschaftsvertrag“, der wichtige Arbeitnehmer angemessen wertschätzt und die Risiken berücksichtigt, die durch den globalisierten Lebensstil entsteht, den Reiche und Privilegierte geniessen.
Es waren hauptsächlich Regierungen der Mitte und rechte Regierungen, die der Krise zu begegnen hatten. Jair Bolsonaro in Brasilien und Donald Trump in den USA experimentierten mit Verleugnung. Auch in Mexiko verfolgte die vermeintlich linke Regierung von Andrés Manuel López Obrador einen Sonderweg und verweigerte drastische Maßnahmen. Nationalistische starke Männer wie Rodrigo Duterte auf den Philippinen, Narendra Modi in Indien, Wladimir Putin in Russland und Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei leugneten das Virus nicht, sondern verließen sich auf ihren patriotischen Appell und ihre Mobbing-Taktiken, um sich durchzusetzen.
Es waren die Führungen der Mitte, die am meisten unter Druck standen. Persönlichkeiten wie Nancy Pelosi und Chuck Schumer in den USA oder Sebastián Piñera in Chile, Cyril Ramaphosa in Südafrika, Emmanuel Macron, Angela Merkel, Ursula von der Leyen und ihresgleichen in Europa. Sie akzeptieren die Wissenschaft. Verweigerung war keine Option. Sie wollten unbedingt zeigen, dass sie besser sind als die „Populisten“.
Um der Krise zu begegnen, haben Politiker eines sonst sehr gemäßigten Stiles sehr radikale Dinge getan. Das meiste waren Improvisation und Kompromisse, aber wann immer es ihnen gelang, ihren Antworten programmatischen Glanz zu geben – sei es in Form des EU-Programms „Next Generation“ oder „Bidens Build Back Better“-Programm im Jahr 2020 – stammte es aus dem Repertoire der grünen Modernisierung, nachhaltiger Entwicklung und des „Green New Deal“.
Das Ergebnis war eine bittere historische Ironie. Auch wenn die Befürworter des Green New Deal wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn eine politische Niederlage erlitten hatten, bestätigte 2020 den Realismus ihrer Diagnose durchschlagend. Es war der Green New Deal, der die Dringlichkeit der Umweltherausforderungen direkt angesprochen und mit Fragen extremer sozialer Ungleichheit verknüpft hatte. Es war der Green New Deal, der darauf bestanden hatte, dass Demokratien sich bei der Bewältigung dieser Herausforderungen nicht von konservativen Wirtschaftsdoktrinen, die aus den vergangenen Schlachten der 70er Jahre stammen und die durch die Finanzkrise von 2008 diskreditiert waren, lähmen lassen durften. Es war der Green New Deal der engagierte junge Bürger mobilisierte, von denen die Demokratie, wenn sie eine hoffnungsvolle Zukunft haben soll, eindeutig abhängt.
Der Green New Deal hatte natürlich auch gefordert, dass ein System, das Ungleichheit, Instabilität und Krisen hervorgebracht und reproduziert hat, nicht endlos geflickt, sondern radikal reformiert werden sollte. Das war eine Herausforderung für die gemäßigte Mitte. Aber einer der Reize einer Krise bestand darin, dass Fragen der langfristigen Zukunft beiseite gelegt werden konnten. Das Jahr 2020 stand ganz im Zeichen des Überlebens.
Die unmittelbare wirtschaftspolitische Reaktion auf den Coronavirus-Schock knüpfte direkt an die Lehren aus dem Jahr 2008 an. Die Staatsausgaben und Steuersenkungen zur Stützung der Wirtschaft erfolgten noch schneller. Noch spektakulärer waren die Interventionen der Zentralbanken. Fiskal- und Geldpolitik zusammen bestätigten die wesentlichen Einsichten wirtschaftlicher Doktrinen, die einst von radikalen Keynesianern vertreten und durch Doktrinen wie die Modern Monetary Theory (MMT) neu in Mode kamen. Die Staatsfinanzen sind nicht wie die eines Haushalts begrenzt. Wenn ein Währungssouverän die Frage nach der Organisation der Finanzierung nicht nur als eine technische Angelegenheit behandelt, ist bereits das eine politische Entscheidung. Wie John Maynard Keynes seine Leser einmal mitten im zweiten Weltkrieg erinnerte: „Alles, was wir tatsächlich tun können, können wir uns auch leisten.“ Die wirkliche Herausforderung, die wirklich politische Frage, bestand darin, zu vereinbaren, was wir tun wollten, und herauszufinden, wie es geht.
Wirtschaftspolitische Experimente im Jahr 2020 beschränkten sich nicht auf die reichen Länder. Ermöglicht durch die Fülle von Dollars, welche die Fed, die US-Notenbank, freisetzte, und vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Erfahrung mit schwankenden globalen Kapitalströmen, zeigten viele Regierungen von Schwellenländern, beispielsweise in Indonesien und Brasilien, bemerkenswerte Initiative als Reaktion auf die Krise.
Sie setzten ein Instrumentarium an Maßnahmen ein, das es ihnen ermöglichte, die Risiken der globalen Finanzintegration abzufedern. Ironischerweise ließ Chinas größerer Erfolg bei der Viruskontrolle die Wirtschaftspolitik des Landes – im Gegensatz zu 2008 – relativ konservativ erscheinen. Länder wie Mexiko und Indien, in denen sich die Pandemie schnell ausbreitete, die Regierungen jedoch nicht mit einer groß angelegten Wirtschaftspolitik reagierten, wirkten zunehmend, als ob sie nicht Schritt halten könnten. Das Jahr sollte ein aufsehenerregendes Spektakel erleben, in dem der IWF eine nur scheinbar linke mexikanische Regierung rügte, weil sie es versäumt hatte, ein ausreichend hohes Haushaltsdefizit zu erreichen.
Es war schwer, nicht zu glauben, dass ein Wendepunkt erreicht war. War dies endlich der Tod der seit den 80er Jahren in der Wirtschaftspolitik vorherrschenden Orthodoxie? War dies die Todesglocke des Neoliberalismus? – Als kohärente Regierungsideologie vielleicht. Die Vorstellung, dass das natürliche Umfeld wirtschaftlicher Aktivität – seien es Krankheiten oder klimatische Bedingungen – ignoriert oder den Märkten zur Regulierung überlassen werden könnte, entspricht eindeutig einem Realitätsverlust. Ebenso die Idee, dass sich Märkte in Bezug auf alle denkbaren sozialen und wirtschaftlichen Schocks selbst regulieren könnten. Noch dringender als 2008 wurden nun Interventionen vom Überleben diktiert, in einem Ausmaß wie zuletzt im Zweiten Weltkrieg.
All dies ließ doktrinäre Ökonomen nach Luft schnappen. Das ist an sich nicht überraschend. Das orthodoxe Verständnis von Wirtschaftspolitik war immer unrealistisch. In Wirklichkeit war der Neoliberalismus immer radikal pragmatisch gewesen. Seine wahre Geschichte war die einer Reihe staatlicher Interventionen im Interesse der Kapitalakkumulation, einschließlich des gewaltsamen Einsatzes staatlicher Gewalt, um die Opposition niederzuwalzen. Was auch immer die doktrinären Wendungen und Wendungen waren, die sozialen Realitäten, mit denen die Marktrevolution seit den 1970er Jahren verbunden war, hielten alle bis 2020 an.
Die historische Kraft, die schließlich die Deiche der neoliberalen Ordnung zerbrach, war kein radikaler Populismus oder die Wiederkehr des Klassenkampfes, es war eine Seuche, ausgelöst durch rücksichtsloses globales Wachstum und das massive Schwungrad der finanziellen Akkumulation.
Im Jahr 2008 war die Krise durch die Überexpansion der Banken und die Exzesse der Hypothekenverbriefung ausgelöst worden. Im Jahr 2020 traf das Coronavirus das Finanzsystem von außen, aber die Fragilität, die durch diesen Schock enthüllt wurde, war intern erzeugt. Diesmal waren nicht die Banken die Schwachestelle, sondern die Asset-Märkte selbst. Der Schock traf das Herzstück des Systems, den Markt für amerikanische Staatsanleihen, die vermeintlich sicheren Vermögenswerte, auf denen die gesamte Kreditpyramide basiert. Wären diese geschmolzen, hätte das den Rest der Welt mitgezogen.
Das Ausmaß der stabilisierenden Interventionen im Jahr 2020 war beeindruckend. Es bestätigte das, worauf der Green New Deal grundlegend beharrt: dass demokratische Staaten, wenn der Wille da ist, über die Werkzeuge verfügen, die sie brauchen, um Kontrolle über die Wirtschaft auszuüben.
Dies war jedoch eine zweischneidige Erkenntnis, denn wenn diese Interventionen eine Durchsetzung souveräner Macht waren, so waren sie krisengetrieben. Wie 2008 dienten sie den Interessen derer, die am meisten zu verlieren hatten, und diesmal waren nicht nur einzelne Banken, sondern ganze Märkte „too big to fail“. Um diesen Kreislauf von Krise und Stabilisierung zu durchbrechen und die Wirtschaftspolitik zu einer echten Ausübung demokratischer Souveränität zu machen, wären grundlegende Reformen erforderlich. Das würde eine echte Machtverschiebung erfordern – und dagegen sprach alles.
Die massiven wirtschaftspolitischen Interventionen des Jahres 2020 hatten ebenso wie die des Jahres 2008 ein Janusgesicht. Einerseits sprengte ihr Ausmaß die Grenzen neoliberaler Zurückhaltung, und ihre ökonomische Logik bestätigte die grundlegende Diagnose der interventionistischen Makroökonomie nach Keynes. Wenn eine Wirtschaft in eine Rezession stürzt, muss man die Katastrophe nicht als natürliches Heilmittel akzeptieren, als belebende Säuberung. Stattdessen kann eine rasche und entschlossene Wirtschaftspolitik der Regierung den Zusammenbruch verhindern und unnötige Arbeitslosigkeit, Verschwendung und soziales Leid verhindern.
Diese Interventionen konnten nur als Vorboten eines neuen Regimes jenseits des Neoliberalismus erscheinen. Andererseits wurden sie von oben nach unten eingeleitet. Sie waren nur deshalb politisch denkbar, weil es keine Herausforderungen von links gab und ihre Dringlichkeit durch die Notwendigkeit der Stabilisierung des Finanzsystems getrieben wurde. Und sie lieferten: Im Laufe des Jahres 2020 stieg das Nettovermögen der privaten Haushalte in den USA um mehr als 15 Billionen US-Dollar. Davon profitierten jedoch die oberen 1 %, die fast 40 % aller Aktien besaßen, in überwältigendem Ausmaß. Bei den oberen 10 % sind es 84 %. Wenn das ein „neuer Gesellschaftsvertrag“ sein sollte, so wäre dies eine erschreckend einseitige Angelegenheit.
Dennoch war 2020 nicht nur eine Zeit der Plünderung, sondern auch des reformistischen Experimentierens. Als Reaktion auf die drohende soziale Krise wurden in Europa, den USA und vielen Schwellenländern neue Formen der Sozialhilfe erprobt. Und auf der Suche nach einer positiven Agenda nahmen die Politiker der Mitte die Umweltpolitik und das Thema Klimakrise wie nie zuvor auf.
Entgegen der Befürchtung, dass Covid-19 von anderen Prioritäten ablenken würde, wurde die politische Ökonomie des Green New Deal zum Mainstream. „Green Growth“, „Build Back Better“, „Green Deal“ – die Schlagworte waren unterschiedlich, aber sie alle drückten die grüne Modernisierung als gemeinsame Antwort der Mitte auf die Krise aus.
Es hilft uns, das Jahr 2020 als umfassende Krise der neoliberalen Ära – in Bezug auf ihre ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Grundlagen – zu sehen, um uns innerhalb unserer historischen Entwicklung zu orientieren. So gesehen markiert die Corona -Krise das Ende eines Bogens, der seinen Ursprung in den 70er Jahren hat. Sie könnte auch als die erste umfassende Krise des Zeitalters des Anthropozäns angesehen werden – einer Ära, die durch die Rückschläge und Konsequenzen aufgrund unseres unausgeglichenen Verhältnisses zur Natur geprägt ist.
Das Jahr 2020 hat gezeigt, wie abhängig die Wirtschaftstätigkeit von der Stabilität der natürlichen Umwelt ist. Eine winzige Virusmutation in einer Mikrobe kann die gesamte Weltwirtschaft bedrohen. Es zeigte auch auf, wie im Extremfall das gesamte Geld- und Finanzsystem auf die Unterstützung von Märkten und Lebensgrundlagen ausgerichtet werden kann. Damit stellt sich die Frage, wer wie unterstützt wird – welche Arbeitnehmer, welche Betriebe sollten welche Leistungen oder welche Steuererleichterung erhalten? Diese Entwicklungen rissen Trennlinien nieder, die für die politische Ökonomie des letzten halben Jahrhunderts grundlegend waren – und die bilslang die Ökonomie von der Natur, die Ökonomie von der Sozialpolitik ebenso wie von der Politik an sich trennten. Hinzu kam eine weitere große Verschiebung, die 2020 endgültig die zugrunde liegenden Annahmen der Ära des Neoliberalismus auflöste: der Aufstieg Chinas.
Als Tony Blair 2005 Globalisierungskritiker verspottete, waren es ihre Ängste, die er verspottete. Er stellte ihre engstirnigen Ängste der Modernisierungsenergie asiatischer Nationen gegenüber, für die die Globalisierung einen hellen Horizont bot. Die globalen Sicherheitsbedrohungen, die Blair sah, wie etwa der islamische Terrorismus, waren scheußlich. Aber der Terrorismus würden den Status quo nicht ändern können, darin lag seine selbstmörderische, jenseitige Irrationalität. Im Jahrzehnt nach 2008 ging genau dieses Vertrauen in die Robustheit des Status quo verloren.
Russland hat als erstes die Tatsache aufgedeckt, dass das globale Wirtschaftswachstum die Machtverhältnisse verschieben könnte. Angetrieben von Öl- und Gasexporten trat Moskau erneut als Herausforderung für die US-Hegemonie auf. Die Bedrohung durch Putin war jedoch begrenzt. Die durch China war es nicht. Im Dezember 2017 veröffentlichte die USA ihre neue Nationale Sicherheitsstrategie, die den Indopazifik erstmals als entscheidenden Schauplatz des Großmachtwettbewerbs bezeichnete. Im März 2019 hat die EU ein entsprechendes Strategiedokument herausgegeben. Großbritannien vollzog unterdessen eine außergewöhnliche Kehrtwende, von der Feier einer neuen „goldenen Ära“ der chinesisch-britischen Beziehungen im Jahr 2015 bis zum Einsatz eines Flugzeugträgers im Südchinesischen Meer.
Die militärische Logik war bekannt. Alle Großmächte sind Rivalen, so zumindest die Logik des „realistischen“ Denkens. Im Falle Chinas kam der Faktor Ideologie hinzu. Im Jahr 2021 tat die KPC etwas, was ihr sowjetisches Gegenstück nie geschafft hatte: Sie feierte ihr 100-jähriges Bestehen.
Peking, das seit den 80er Jahren marktgetriebenes Wachstum und private Kapitalakkumulation erlaubt hatte, machte keinen Hehl aus seinem Festhalten an einem ideologischen Erbe, das über Marx und Engels bis hin zu Lenin, Stalin und Mao reichte. Xi Jinping hätte die Notwendigkeit, an dieser Tradition festzuhalten, kaum deutlicher ausdrücken und nicht deutlicher in seiner Verurteilung von Michail Gorbatschow sein können, weil dieser den ideologischen Kompass der Sowjetunion verloren habe.
Der „neue“ Kalte Krieg war also wirklich der „alte“ Kalte Krieg, der wiederbelebt wurde – jener Kalte Krieg in Asien, den der Westen tatsächlich nie gewonnen hatte.
Es gab jedoch zwei große Unterschiede, die die Vergangenheit von der Gegenwart trennten. Der erste war die Wirtschaft. China war aufgrund des größten Wirtschaftsbooms der Geschichte eine Bedrohung. Das hatte im Westen einigen Arbeitern in der Produktion geschadet, aber Unternehmen und Verbraucher in der gesamten westlichen Welt und darüber hinaus hatten immens von Chinas Entwicklung profitiert und würden in Zukunft noch mehr davon profitieren. Das schuf eine Zwickmühle. Ein wiederbelebter Kalter Krieg mit China machte aus jeder Perspektive Sinn – außer “the economy, stupid”.
Das zweite grundlegende Novum war das globale Umweltproblem und die Rolle des Wirtschaftswachstums bei dessen Beschleunigung. Als die globale Klimapolitik in den 90er Jahren erstmals in ihrer modernen Form aufkam, waren die USA der größte und widerspenstigste Umweltverschmutzer. China war arm und seine Emissionen spielten in der globalen Bilanz kaum eine Rolle. Nun, in 2020, emittierte China mehr Kohlendioxid als die USA und Europa zusammen. Und der Abstand wird sich mindestens für ein weiteres Jahrzehnt vergrößern. Eine Lösung des Klimaproblems ohne China ist ebenso wenig vorstellbar wie eine Umgang mit dem Risiko neu auftretender Infektionskrankheiten. China ist die mächtigste Brutstätte von beidem.
Noch 2020 versuchten die grünen Modernisierer der EU, dieses Doppeldilemma in ihren strategischen Dokumenten zu lösen, indem sie China gleichzeitig zum systemischen Rivalen, strategischen Konkurrenten und Partner im Umgang mit der Klimakrise erklärten. Die Trump-Administration machte sich das Leben leichter, indem sie das Klimaproblem leugnete. Aber auch Washington wurde auf den Hörner des wirtschaftlichen Dilemmas aufgespießt – zwischen der ideologischen Denunziation Pekings, einem strategischem Kalkül, den langfristigen Unternehmensinvestitionen in China und dem Wunsch des Präsidenten nach einem schnellen Deal. Dies war eine instabile Kombination, und im Jahr 2020 kippte sie. China wurde als strategische und wirtschaftliche Bedrohung für die USA neu definiert. Als Reaktion darauf erklärte die amerikanische Regierung – der Geheimdienst, Sicherheits- und Justizzweige – China den Wirtschaftskrieg. Durch die Schließung von Märkten und die Blockierung des Exports von Mikrochips sowie der Ausrüstung zu deren Herstellung wollten sie die Entwicklung von Chinas High-Tech-Sektor, dem Herz jeder modernen Wirtschaft, sabotieren.
Es war bis zu einem gewissen Grad zufällig, dass die Eskalation genau zu dieser Zeit stattfand. Chinas Aufstieg war ein langfristiger welthistorischer Wandel. Aber Pekings Erfolg im Umgang mit dem Coronavirus und die Selbstsicherheit, die es entfesselt hat, waren eine rote Fahne für die Trump-Administration. Unterdessen wurde immer deutlicher, dass die anhaltende globale Stärke der USA in den Bereichen Finanzen, Technologie und Militär auf tönerenen Füßen stand. Als durch Covid-19 schmerzlich aufgedeckt wurde, war das US-Gesundheitssystem marode, sein soziales Sicherheitsnetz überließ Dutzende Millionen drohender Armut. Sofern Xis „Traum-China“ das Jahr 2020 intakt überstanden hat, kann man dies vom amerikanischen Gegenspieler nicht behaupten.
Die allgemeine Krise des Neoliberalismus im Jahr 2020 hatte somit für die USA eine spezifische und traumatische Bedeutung, insbesondere für einen Teil des amerikanischen politischen Spektrums. Die Republikanische Partei und ihre nationalistischen und konservativen Wähler erlitten im Jahr 2020 eine existenzielle Krise mit zutiefst schädlichen Folgen – für die amerikanische Regierung, die amerikanische Verfassung und die Beziehungen Amerikas zur Welt.
Dies gipfelte in der außerordentlichen Phase zwischen dem 3. November 2020 und dem 6. Januar 2021, in der Trump sich weigerte, eine Wahlniederlage einzuräumen, ein Großteil der republikanischen Partei aktiv den Versuch unterstützte, die Wahl zu kippen, die soziale Krise und die Pandemie unbeachtet blieben, bis schließlich, am 6. Januar, der Präsident und andere führende Persönlichkeiten seiner Partei die Invasion eines Mobs in das Kapitol befeuerten.
Aus gutem Grund führt dies zu tiefer Besorgnis hinsichtlich der Zukunft der amerikanischen Demokratie. Es gibt Elemente ganz rechts in der amerikanischen Politik, die man mit Recht als faschistoid bezeichnen kann. Aber zwei grundlegende Elemente fehlten 2020 in der ursprünglichen faschistischen Gleichung in den USA: Eines ist der totale Krieg. Die Amerikaner erinnern sich an den Bürgerkrieg und stellen sich zukünftige Bürgerkriege vor. Sie haben in letzter Zeit Expeditionskriege geführt, die die amerikanische Gesellschaft zurückgeworfen haben in militarisierte Polizei und paramilitärische Fantasien. Aber ein totaler Krieg rekonfiguriert die Gesellschaft auf ganz andere Weise. Er erschafft einen Gesamtkörper, anders als die individualisierten Kommandos von 2020.
Der andere fehlende Faktor in der klassischen faschistischen Gleichung ist der soziale Antagonismus – eine Bedrohung des sozialen und wirtschaftlichen Status quo von links, sei diese imaginär oder real. Als sich 2020 die verfassungsmäßigen Sturmwolken zusammenzogen, richtete sich die amerikanische Wirtschaft massiv und direkt gemeinsam gegen Trump aus. Die großen Stimmen der amerikanischen Konzerne scheuten sich auch nicht, die geschäftlichen Argumente dafür zu formulieren – wie unter anderem die des Shareholder Value, der Probleme der Führung von Unternehmen mit politisch gespaltenen Belegschaften, der wirtschaftlichen Bedeutung des Rechtsstaats und erstaunlicherweise auch der Umsatzeinbußen, die im Falle eines Bürgerkriegs zu erwarten wären.
Dieser Schulterschluß des Geldes mit der Demokratie in den USA im Jahr 2020 sollte beruhigend sein, ist es aber nur bis zu einem gewissen Grad. Betrachten wir einen Augenblick lang ein alternatives Szenario. Was wäre gewesen, wenn das Virus ein paar Wochen früher in den USA angekommen wäre, die sich ausbreitende Pandemie zur Massenunterstützung für Bernie Sanders und seinen Ruf nach einer universellen Gesundheitsversorgung geführt hätte, wenn die Vorwahlen der Demokraten einen bekennenden Sozialisten an die Spitze gefegt hätten, anstatt Joe Biden? Aus den gleichen Gründen ist es nicht schwer, sich ein Szenario vorzustellen, in dem das volle Gewicht der amerikanischen Wirtschaft in die andere Richtung geworfen worden wäre, in Richtung der Trump-Unterstützung, um sicherzustellen, dass Sanders nicht gewählt würde.
Was wäre gewesen, wenn Sanders tatsächlich die Mehrheit gewonnen hätte? Dann hätten wir einen echten Test für die amerikanische Verfassung und die Loyalität der mächtigsten gesellschaftlichen Interessen zur Verfassung gehabt. Dass wir über solche Szenarien nachdenken müssen, weist darauf hin, wie extrem die mehrfache Krise von 2020 war.
Die Wahl von Joe Biden und die Tatsache, dass seine Amtseinführung zum festgesetzten Zeitpunkt am 21. Januar 2021 stattfand, brachte wieder Ruhe. Aber während Biden kühn erklärt, „America is back“, wird immer deutlicher, welche Frage wir uns als nächstes stellen müssen: Welches Amerika? Und zurück zu was? Die umfassende Krise des Neoliberalismus mag selbst im einst toten Zentrum der Politik kreative intellektuelle Energie entfesselt haben. Aber eine geistige Krise macht keine neue Ära.
Wenn uns jene Entdeckung „dass wir uns alles, was wir tatsächlich tun können, auch leisten können“ weiter anregt, dann bringt sie uns auch zu dem Punkt: Was können und sollten wir eigentlich tun? Wer ist eigentlich das Wir?
Wie Großbritannien, die USA und Brasilien demonstrieren, nimmt demokratische Politik seltsame und ungewohnte neue Formen an. Soziale Ungleichheiten sind extremer, nicht geringer geworden. Zumindest in den reichen Ländern gibt es keine kollektive Gegenmacht. Die kapitalistische Akkumulation setzt sich in Kanälen fort, die die Risiken kontinuierlich vervielfachen. Der Hauptzweck unserer neu gewonnenen finanziellen Freiheit sind immer groteskere Bemühungen um eine finanzielle Stabilisierung. Der Antagonismus zwischen dem Westen und China trennt riesige Teile der Welt, so wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Und nun ist das Monster in Form von Covid angekommen. Das Anthropozän hat seine Reißzähne gezeigt – in noch bescheidenem Umfang. Covid ist noch lange nicht das Schlimmste, womit wir rechnen sollten – 2020 war noch nicht der volle Alarm. Während wir den Staub abschütteln und uns über die Erholung freuen, sollten wir nachdenken. (..) 2020 war ein Weckruf.”
Adam Tooze: Welt im Lockdown
„ Shutdown: How Covid Shook the World’s Economy“ Adam Tooze, erhältlich im Guardian Bookshop
“Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen.” C.H. Beck Verlag