Menschen sind immer in Bewegung, sie bewegen sich durch Zeiten und Räume. Warum unterteilen wir sie in „Migranten“ und „Einheimische“? – Ein Essay von Mohsin Hamid (s.u.)
Auch im vergangenen Jahr 2021 hatten die meisten von uns vor allem die Corona-Pandemie im Blick, die uns alle in gewissem Maß eingeschränkt, viele auch sehr getroffen hat. Doch es ist auch eine Zeit, in der sich die Situation der Flüchtlinge und die humanitäre Katastrophe an den Außengrenzen der EU weiter verschlimmert hat. Sea-Watch schreibt Ende 2020: “… auch dieses Jahr ertranken über 1200 Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren.”
Und: “Kurz nachdem im September die ersten Covid-Infektionen in Moria bekannt gegeben wurden, machte das Lager weltweit Schlagzeilen: mehr als 12.000 Schutzsuchende, ein Drittel davon Kinder, wurden über Nacht obdachlos und verloren das Wenige, was sie noch hatten, nachdem ein Feuer das Camp zerstörte. Die nächsten Tage und Nächte mussten die Überlebenden auf der Straße verbringen – ohne Versorgung mit Trinkwasser oder Lebensmitteln.” Am 23.12.2020 brennt das Flüchtlingslager bei Lipa in Bosnien, auch dort sind Hunderte Menschen obdachlos, in Kälte und Schnee. Immer wieder wird das völlige Versagen der Europäischen Union und die Unmenschlichkeit der Zustände beklagt.
Und immer wieder schockieren uns die Schicksale, die Verzweiflung der Menschen, die sich von uns Hilfe erhoffen.
Ein Essay von MOHSIN HAMID (erschienen im August 2019 im “National Geographic” Magazin) erinnert uns daran, dass wir als menschliche Spezies letztlich alle Migranten sind, ich habe versucht, den Text so ins Deutsche zu übertragen, dass seine eindringliche Kraft spürbar bleibt:
Mohsin Hamid: “In diesem 21. Jahrhundert sind wir alle Migranten.”
“Wir alle stammen von Migranten ab. Unsere Spezies, Homo sapiens, hat sich weder in Lahore – wo ich diese Worte schreibe –, entwickelt, noch in Shanghai, Topeka, Buenos Aires, oder in Kairo oder Oslo, wo Sie dies vielleicht lesen.
Selbst wenn Sie heute im Rift Valley in Afrika leben, unserem gemeinsamen Mutterkontinent, dort, wo die frühesten Zeugnisse unserer Spezies entdeckt wurden – selbst dann haben Sie Vorfahren, die sich von dort wegbewegt haben; sie sind weitergezogen, haben sich verändert und haben sich mit anderen Kulturen gemischt, bevor sie an jenen Ort zurückgekehrt sind, an dem Sie jetzt leben.
So wie auch ich Lahore verließ, jahrzehntelang in Nordamerika und Europa lebte, bevor ich in das Haus zurückkehrte, in dem meine Großeltern und Eltern einst wohnten. Das Haus, in dem ich einen Großteil meiner Kindheit verbracht hatte, so dass ich scheinbar ein Einheimischer bin – und doch ein völlig neuer und anderer Mensch durch meine Reisen.
Niemand von uns ist beheimatet an dem Ort, den wir “Zuhause” nennen
Und niemand ist in diesem gegenwärtigen Moment innerhalb der Zeit zuhause. Wir sind weder in dem Augenblick heimisch, in dem dieser Satz geschrieben wurde, und der vergangen ist, noch in dem Moment, da wir begonnen haben, ihn zu lesen; nicht einmal in diesem Moment jetzt, den wir zum ersten Mal erleben und der gleich wieder vergeht – er ist schon vergangen, unwiderruflich verloren, er existiert nur noch in unserem Gedächtnis.
Mensch zu sein bedeutet, sich durch die Zeit vorwärts zu bewegen, die Sekunden sind wie Inseln, auf denen wir als Schiffbrüchige ankommen, von denen wir durch die Gezeiten weggerissen werden, wieder und wieder kommen wir an in einem neuen Augenblick, auf einer neuen Insel, die wir, wie jedes Mal, noch nie erlebt haben. Im Laufe eines Lebens sammeln sich all diese Bewegungen an, all die Sekunden werden zu Stunden, Monaten, Jahrzehnten. Wir werden Flüchtlinge, unserer Kindheit, der Schule, der Freunde, der Spielsachen, der Eltern, vertrieben von allem, was uns die Welt bedeutete und das ersetzt wurde durch neue Gebäude, Telefonanrufe, Fotoalben und Erinnerungen.
Wir treten hinaus auf unsere Straße, schauen zu den gewaltigen Gestalten der Erwachsenen auf, und ein wenig später treten wir wieder heraus und ziehen mit unserer Jugend die Blicke der anderen auf uns; noch später sind wir dort mit unseren eigenen Kindern oder denen unserer Freunde – und dann, wiederum etwas später scheinen wir unsichtbar zu sein, nicht mehr sehr interessant für andere, und längst von der Schwerkraft gebeugt.
Wir alle erleben das Drama des ständig Neuen und die beständige Trauer über den Verlust dessen, was wir zurücklassen mussten.
Es ist eine universelle Trauer, und sie ist so stark, dass wir versuchen, sie zu verleugnen, selten gestehen wir sie uns selbst ein und gestehen sie erst recht nicht anderen zu. Wir werden von der Gesellschaft ermutigt, uns nur auf das Neue zu konzentrieren, auf den Erwerb und nicht auf den Verlust, der doch jener andere Faden ist, der uns allen gemein ist und der unsere Spezies verbindet.
Wir bewegen uns durch die weltliche Zeit und durch die zeitliche Welt, weil wir dazu gezwungen sind. Wir bewegen uns durch Zeit und Raum, durch die physische Welt, scheinbar weil wir es so gewählt haben, aber in diesen Entscheidungen gibt es auch Zwänge. Wir bewegen uns, wenn es unerträglich ist, dort zu bleiben, wo wir sind: wenn wir keinen Moment länger alleine in unserem erdrückend stickigen Schlafzimmer bleiben können, nach draußen gehen und spielen müssen; wenn wir keinen Moment länger auf unserer ausgetrockneten Farm bleiben können, hungrig sind und woanders nach Essen suchen müssen.
Wir bewegen uns aufgrund von Umweltbelastungen und physischen Gefahren und der Kleinmut unserer Nachbarn – und um zu sein, wer wir sein möchten, um zu suchen, was wir suchen wollen.
Wir sind eine wandernde Spezies. Menschen haben sich immer bewegt. Unsere Vorfahren haben das getan, und zwar nicht linear wie eine Armee, die in einer Reihe kühner Stöße aus Afrika hervorkam, sondern umständlich, manchmal in eine Richtung, dann in eine andere, getragen von äußeren wie inneren Strömungen.
Unsere Zeitgenossen ziehen um – vor allem vom Land in die Städte Asiens und Afrikas. Auch unsere Nachkommen werden weiterziehen. Sie werden sich fortbewegen, wenn sich das Klima ändert, wenn der Meeresspiegel steigt, wenn Kriege geführt werden, wenn ein Wirtschaftszweig stirbt und einem anderen Platz macht.
Die Kraft unserer Technologie und ihre Auswirkungen auf unseren Planeten wachsen. Dadurch beschleunigt sich auch das Tempo des Wandels, was zu neuen Belastungen führt, und unsere anpassungsfähige Spezies wird zum Teil auf diese Belastungen reagieren, indem sie weiterzieht, wie es unsere Urgroßmütter und Urgroßväter taten, wie es in uns angelegt ist.
Und doch vermittelt man uns, dass eine solche Bewegung ohnegleichen und nie da gewesen sei, dass sie eine Krise darstelle, eine Flut, eine Katastrophe. Uns wird gesagt, dass es zwei Arten von Menschen gibt: Einheimische und Migranten, und dass diese um die Vorherrschaft kämpfen müssen. Uns wird nicht nur gesagt, dass die Bewegung durch Länder und Erdteile hindurch gestoppt werden kann, sondern auch die Bewegung durch die Zeit – dass wir in die Vergangenheit zurückkehren können. In eine Vergangenheit, in der alles besser war, eine Zeit in der unser Land, unsere Rasse, unsere Religion wirklich großartig war.
Alles, was wir dazu akzeptieren müssen, ist die Spaltung. Die Aufteilung der Menschheit in gebürtige Einwohner und Migranten. Die Vision einer Welt der Mauern und Barrieren, einer Welt der Wachen, der Waffen und der Überwachung, die zur Durchsetzung dieser Grenzen erforderlich sind. Eine Welt, in der die Privatsphäre stirbt, ebenso wie die Würde und Gleichheit, und in der die Menschen so tun müssen, als seien sie statisch, bewegungslos, festgebunden an dem Stück Land, auf dem sie sich gerade befinden, und in einer Zeit gebunden wie in der ihrer Kindheit – oder der Kindheit ihrer Vorfahren – in einer imaginären Zeit, in welcher der Stillstand nur eine imaginäre Möglichkeit ist.
Dies sind die Träume einer Spezies, die der Nostalgie unterliegt, im Krieg mit sich selbst, mit ihrer naturgegebenen Wesensart der beständigen Wanderung und der Zeitgebundenheit – in schreiender Verleugnung der ständigen Bewegung, die das menschliche Leben ausmacht.
Vielleicht gibt es einen Ausweg aus dieser drohenden Dystopie, indem wir uns alle als Migranten begreifen. Wenn wir alle Migrantinnen sind, besteht möglicherweise eine Verwandheit zwischen dem Leid der Frau, die noch nie in einer anderen Stadt gelebt hat und sich inzwischen dennoch in ihrer eigenen Straße fremd fühlt, und dem Leid des Mannes, der seine Stadt verlassen hat und weiß dass er sie nie wieder sehen wird.
Vielleicht ist die Vergänglichkeit unser gemeinsamer Feind, nicht in dem Sinne, dass der Lauf der Zeit besiegt werden kann, sondern in dem Sinne, dass wir alle unter den Verlusten leiden, die uns die Zeit zufügt.
So könnte ein größeres Maß an Mitgefühl für uns selbst möglich werden. Und daraus ein größeres Maß an Mitgefühl für andere entstehen.
Wir könnten, während wir durch die Zeit hindurch schwimmen, mehr Mut aufbringen, statt unserer Angst nachzugeben. Wir könnten gemeinsam mutig genug sein, anzuerkennen, dass unser individuelles Ende nicht das Ende von allem ist, und dass Schönheit und Hoffnung möglich bleiben, auch wenn wir selbst gegangen sind.
Es wird nicht einfach sein, unsere Realität als wandernde Spezies zu akzeptieren. Wir werden eine neue Kunst, neue Geschichten und neue Seins- und Lebensarten brauchen. Aber das Potenzial ist groß. Eine bessere Welt ist möglich, eine gerechtere und umfassendere Welt, besser für uns und unsere Enkelkinder, mit besserem Essen und besserer Musik und weniger Gewalt.
Vor zwei Jahrhunderten war die Stadt in Ihrer Nähe geradezu unvorstellbar anders als heute. Und in weiteren zwei Jahrhunderten wird der Unterschied zu heute mindestens ebenso groß sein.
Nur wenige Bürger – egal in welcher Stadt – würden es vorziehen, in ihrer Stadt zu leben, so wie sie vor zwei Jahrhunderten war. Wir sollten die Zuversicht haben, uns vorzustellen, dass dies auch für die Bürger der Weltstädte in zwei Jahrhunderten gelten wird.
Eine Spezies von Migranten, die sich endlich wohl damit fühlt, eine solche Spezies zu sein. Das ist für mich ein Ziel, auf das es sich hinzuzugehen lohnt. Das ist die zentrale Herausforderung und Chance, die uns jeder Migrant, jede Migrantin bietet: in ihm, in ihr, unsere eigene Realität zu sehen.”
- Mohsin Hamid ist pakistanischer Schriftsteller. Er lebt in London, hat Wirtschaftswissenschaften in Harvard und Princeton studiert und danach in New York als Unternehmensberater und in Lahore als freiberuflicher Journalist gearbeitet.